07.03.14

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau - Max Scharnigg


"Was war das doch für eine Zeit, in der ohne weiteres und an jedem Nachmittag alles passieren konnte."

Jasper Honigbrod lebt gemeinsam mit Vater und Großvater auf einem alten Aussiedlerhof, auf dem noch die alte Tradition des "Stangen längens" betrieben wird. Dies ist ein Brauch, der dem Hof und der dazugehörigen Familie Glück bringen soll. Mit nachlassender Pflege dieser Tradition, scheint auch das Glück das Gefühl zu haben nicht mehr mit angebrachter Sorgfalt behandelt zu werden und zieht von dannen oder hockt verärgert in der Ecke.

Max Honigbrod, der Mann mittlerster Generation, lebt zwar mehr in der Welt der Literatur als in der Realität, aber er hat vom Hofältesten Ludwig Honigbrod, Ingenieur und Pedant, diesen Brauch übernommen. Gemeinsam sorgt man dafür, dass das Stangen längen fleißig und sorgfältig betrieben wird. Doch dann und wann geschehen ereignisse, die auch ein so sortiertes und geregeltes Leben in den Strudel des Chaos ziehen können.

"So zogen sie dort ein, ein altes Kästchen, das schon immer dort gewohnt hatte, und ein neues Mädchen, das noch nie dort gewohnt hat."

Jasper ist sechs Jahre alt, als der Vater eines Tages ein Kind mit nach Hause bringt, dass nach Angaben der "Opis" (erwachsene Männer) ein Mädchen sein soll - so wie die Lene-Mama, die ab und an  -und das viel zu selten, vorbeischaut, und nach den Berechnugen von Jasper und Max in etwa 5 Jahre alt sein muss. Der Lauf von Dingen, vor denen Jasper bisher nicht nur behütet, sondern auch abgeschottet lebt, nimmt seinen Lauf.

Der Münchner Journalist und Schriftsteller Max Scharnigg hat den Bayerischen Kunstförderpreis zu recht verliehen bekommen, denn das, was er im Roman "Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau" abliefert ist für mich wahre Schriftssteller Kunst. So kreiert er das kleine Hofgut Pildau, in dem die Uhren so anders laufen, dass der Leser das Gefühl bekommt in eine andere Zeit, teilweise sogar eine andere Welt einzutauchen. Eine Welt, in der man nach Vorgaben von Schriftsstellern lebt und einen ganz eigenen Lebensrhythmus schafft. Und dennoch haben die Bewohner dort ganz eigene Kernkompetenzen entwickelt. So erziehen die beiden älteren Männer die zwei Kinder nach bestem Wissen und Gewissen. Inwieweit sich das positiv auswirkt, liegt ein wenig im Auge des Betrachters. Ein Perspektivwechsel ist hier durchaus hin und wieder angebracht.

"Wir zogen wild herum, niemand kannte uns, und nichts kannten wir, wir hatten nur die Bücher, die Reste des Hoflebens und die Straße."

Jasper und das Mädchen, das von Max sinniger Weise Lada getauft wurde, denn immerhin hat er es aus einem Lada gerettet, erleben diese Welt auf eigene Art und Weise und obwohl sie auch unterschiedlich damit umgehen, zeigt es deutlich, dass es etwas wie antrainiertes Verhalten gibt und viele Verhaltensmuster nichts mit dem Generbe der einzelnen Person zu tun haben.

"Die vorläufige Chronik des Himmels über Pildau" ist damit vor allem ein Roman übers Erwachsen werden. Oder besser gesagt übers aufwachsen und entwickeln. Jasper ist so naiv, weiß so wenig vom Leben außerhalb Pildaus und macht seine Erfahrungen auf die für Pildau ganz eigene und vor allem eigensinnige Art und Weise. Wir lernen aber nicht nur Jaspers Beweggründe dafür, warum er ist, wie er ist, kennen, sondern auch die von Max, Ludwig und Marlene. Der Autor gibt uns einen kleinen aber sehr intensiven und gewichtigen Einblick in das Leben jedes Charakters und öffnet uns damit ein Stück zu deren Seele.

"Jeder, der ein Buch liest, weiß wann die Geschichte zu Ende geht, die Finger, die das Buch halten, verraten es, und es war genau das problem, das ich mit dem Übergang von Tag und Nacht und Sommer und Winter hatte."

Max Scharnigg hat mir mit meinem seinem Roman "Die vorläufige Chronik des Himmels über Pildau" ein Kleinod beschert, das es auf die Liste meiner Herzensbücher geschafft hat. Voller Sprachgewalt, Tiefgang und kräftiger Poesie, beschreibt er das Leben in der Abgeschiedenheit von Pildau, wo alles seinen natürlichen Gang geht und sich damit von vielem distanziert, was in großen Gemeinschaften passiert. Von der Absurdität dessen, was passieren kann, wenn Menschen versuchen etwas nach ihren Vorstellungen zu kultivieren und den Bann des natürlichen Werdegangs brechen, um ihre eigenen Vorstellungen aufzuzwingen. Bedächtigkeit und Aufmerksamkeit sind für mich so gewichtig im Roman, wie das verfolgen eigener Träume. Und manchmal staune ich - ebenso wie die Honigbrods -, darüber, wie fernab die Realität von dem ist, was in Büchern passiert und das, wo Bücher doch alles wissen ...

Buchinfo:


Hoffmann und Campe (September 2013)
304 Seiten
19,99 €



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