14.10.15

Späte Einsichten / David Leavitt



Je größer die Begeisterung für einen Roman, desto schwieriger ist es, diese in eigene Worte zu fassen. Vor allem dann, wenn der Autor selbst so brillant und klug schreibt, dass die Faszination für seine Fähigkeit psychische Vorgänge zu skizzieren, für Sprachlosigkeit sorgt. Oder Wortlosigkeit - in meinem Fall.

"Meine große Schwäche ist, dass ich den Fluss der Zeit nicht akzeptieren kann. Ich will gegen das Verblassen der Erinnerung durch die Zeit ankämpfen. Ein ganz und gar vergeblicher Versuch, weil - vielleicht hast du das auch bemerkt - gerade die Erinnerungen, die wir am häufigsten beschwören, am schnellsten verblassen und durch - wie soll ich sagen - eine Art Erinnerungsfiktion ersetzt werden."

Zur Handlung: Schauplatz ist Lissabon im Jahr 1940. Pete und Julia leben dort, weil Julia jüdischer Abstammung ist. Wohl fühlt sie sich dort nicht. Aber wo gefällt es ihr schon? Sie fühlt sich nirgends Zuhause. Ist immer unruhig. Viele alternative Möglichkeiten gibt es derzeit aber auch nicht. Fast alle Länder, in denen Julia zu leben erwägt, sind zu gefährlich für sie. Ihre Unzufriedenheit scheint sich zu ändern, als sie Iris und Edward kennenlernen. Sie freunden sich mit dem Pärchen an. Es kommt dazu, dass Leidenschaft entfacht und Liebe von einer neuen Perspektive betrachtet wird.

"Ich fand es unheimlich. Für mich ist ein Charakterwandel immer beängstigender als ein Sinneswandel."

David Leavitt ist es gelungen mich zu überraschen. Warum? Ich habe mich zwar auf einen guten Roman eingestellt, aber eben nicht auf einen solch guten. Handlungen, mit denen ich nie gerechnet hätte. Die der Verlag glücklicherweise auch nicht im Klappentext veröffentlicht, sondern für den Leser im Geheimen hält. Wie eine kleine Entdeckungsreise liest man sich durch die Wahrheiten, die von Leavitt nur nach und nach serviert werden.

"Ich verstand, dass ich in Ermangelung eines drängenden Wunsches oder Ziels mein Leben lang nach einem Zweck außerhalb meiner selbst gesucht hatte, der mich gewissermaßen huckepack tragen würde."

Dieses psychologische Geschick, dass Leavitt an den Tag legt. Beeindruckend! Klare Worte, Strukturen wie aus dem Lehrbuch. Und doch erkenne ich sie erst nach etlichen Seiten. Trotz Erfahrung mit derlei Handlungsformen, gelingt es Leavitts Figuren auch mich zu täuschen. Sich zu verstecken hinter Handlungsmustern, mit denen sie ihre gespielte Realität, ihr Wunschdenken ausleben, um sich so vor der Wirklichkeit zu verstecken. Wie schnell gerät sie einem dabei aus den Augen.

"Und ich dachte: Natürlich. Er kann die Szenen anderer Leute nicht ertragen - nur seine eigenen."

Ich habe mir etliche Notizen zu den Figuren des Romans gemacht und verzichte nun darauf, diese zu veröffentlichen, denn dieselbe Überraschung, die mich erfasst hat, das Staunen, dass Leavitt so häufig mit seinen charmanten und betörenden Worten, hinter denen so viel Berechnung steckt, ausgelöst hat, soll jeder Leser selbst erfahren.

Buchinfo:


Hoffmann und Campe (September 2015)
304 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag
20,00 €
Originaltitel: The Two Hotel Francforts
Übersetzung: Georg Deggerich
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