29.12.15

Wir sahen nur das Glück - Grégoire Delacourt



Antoine ist von seinen Eltern nie wirklich geliebt worden. Sein Vater unfähig solch starken Gefühle zum Ausdruck zu bringen, seine Mutter nicht in der Lage sie zu entwickeln. Sie hat es wenigstens mal versucht, doch dann kam der Tod einer ihrer Zwillinge dazwischen und sie wusste keinen anderen Ausweg, als die Flucht anzutreten. Feige hat sie ihre Kinder zurückgelassen bei einem Mann, der sich mit Feigheit bestens auskennt, denn die Feigheit ist es, die ihn davon abhält, Gefühle zuzulassen.
Ohne die Liebe einer Mutter gedeiht man krumm. Wächst man schief.“

Antoine und seine Schwester – der Zwilling, der noch lebt – sind die Zurückgebliebenen. Verlassen von der Liebe, die Eltern ihren Kindern geben sollten, leben sie in einer Art Symbiose. Dann lernt Antoine eine Frau kennen. Schön, wild, scheinbar mutig. Schnell brennt er für sie, doch ebenso schnell erlöschen die Flammen, in denen sie gemeinsam getanzt haben. Antoine ist wieder derjenige, der zurückbleibt. Doch nun gibt es eine Tochter, die er liebt. Bei einem späteren Versuch wieder eine Familie zu werden, denn irgendwann soll sich der Kreislauf aus familiärer Zerrüttung mal lösen, kommt noch ein Sohn hinzu. Antoine wäre so gern ein guter Vater. Doch hemmt ihn das Gefühl, es nicht zu können. Er traut seiner Zuneigung nicht, traut sich selbst nicht und begeht eine Tat von schockierender Brutalität.

Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt“ so ein berühmtes Zitat Napoleons. Aber was ist erlaubt, wenn Liebe fehlt? Wenn ein Kind aufwächst, ohne die Liebe der Eltern? Was macht das aus ihm?

Antoine hat nie die Liebe erfahren, die er benötigt hätte. Weder von seinem Vater noch von seiner Mutter. Wie soll er lieben erlernen, wenn er der Liebe nie begegnet ist? Wie soll er sie weitergeben? Es entsteht ein Kreislauf, der sich über mehrere Generationen erstreckt. Entrinnen kaum möglich. Oder doch? Welchen Weg gibt es heraus aus diesem Teufelskreis, der das Leben kalt und leer werden lässt?

Man wächst schlecht ohne den Schatten einer Mutter. Man wächst schief. Man wird zum Dornenstrauch.“

Als Pädagogin mit psychologischem Hintergrundwissen, fallen mir mehrere Wege ein. Wege, die steinig und beschwerlich sind und möglicherweise erst nach Jahren und in folgenden Generationen Erfolg zeigen. Der Weg, den Delacourt für seinen Protagonisten gewählt hat, hat mich umgehauen. Wie ein Faustschlag in die Magengrube, so dass eine bedrückende Übelkeit in mir aufstieg, als ich die entscheidenden Worte gelesen habe. Und doch ist sein Weg ebenso realistisch wie die anderen Möglichkeiten, die bestehen. Wenn ich von realistisch rede, dann meine ich nicht, dass es der richtige Weg ist, dass es aber eben ein Weg ist, den Menschen, denen Liebe fehlt, einschlagen.

Mein Vater hatte wahrscheinlich niemanden geliebt, und unter all dem Unglück, das er mir vererbt hat, war vielleicht auch dieses: die Unfähigkeit, sich lieben zu lassen. Seine größte Schwäche und fortan auch die Schwäche von uns allen.“

Delacourt ist für mich ein Meister der Worte. Er versteht sie gekonnt einzusetzen, mit ihnen zu jonglieren, Leser zu verzaubern. Gefühle mitten ins Herz zu schreiben. Fein, poetisch, leise. Ganz ohne Schnörkel. In „Wir sahen nur das Glück“ besonders bedrückende Szenen, ganz ohne Dramatik und Theatralik. Ganz einfach so wie sie sind. Traurig, bewegend, ergreifend.

Warum begegnet man denen, die uns gefehlt haben, gerade dann, wenn man sie verliert?“

Dass Delacourt in „Wir sahen nur das Glück“ so zuschlägt, habe ich nicht erwartet. Eine Handlung, die mich schockiert hat. Die mich das Buch für kurze Zeit zur Seite legen ließ, um Luft zu holen. Durchzuatmen und mich dem zu stellen, was folgen würde. Trotz all der Traurigkeit, die im Buch mitschwingt, all der Ohnmacht, mit der Antoine belegt ist und die sich wie all die in der Geschichte mitschwingenden Gefühle auf den Leser überträgt, ist es auch ein Roman, der Hoffnung einen Raum bietet. Der ihr mehr und mehr erlaubt an die Oberfläche zu treten und zu zeigen, dass es immer einen Ausweg gibt und dass die Chance den Teufelskreis der Generationen zu durchbrechen für jeden zur Verfügung steht.

Buchinfo:


Atlantik (August 2015)
282 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag
20,00 €
Übersetzung: Claudia Steinitz

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2 Kommentare:

  1. Um dieses Buch kreise ich schon länger und bin völlig unentschlossen, ob ich es nun lesen soll. Eine Leseprobe hat mcih vom Schreibstil her nicht so angesprochen - wenn ich jetzt aber deine Rezension lese, bekomme ich wieder Lust auf die Geschichte. Ich glaube, ich sollte sie doch mal lesen. :-)
    LG Sabine

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    1. Ich bin natürlich großer Fan von Delacourts Schreibe, kann aber auch verstehen, wenn sie jemandem zu poetisch ist.
      Was hat dich denn daran gestört?
      Also ich kann dir soviel verraten, dass eine wirklich, wirklich überraschende und auch ein klein wenig verstörende Handlung auftaucht, die den Leser so richtig durcheinander wirbelt. Aber eben auch extrem spannend und tiefgründig.

      Liebe Grüße
      Nanni

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