31.03.15

In Zeiten von Liebe und Lüge / Hélène Grémillon



"Dieser Roman beruht auf einer wahren Geschichte. Er spielt in Buenos Aires, Argentinien. Wir sind im August 1987, es ist Winter. Die Jahreszeiten sind nicht überall gleich. Die Menschen schon."

Die hübsche Lisandra wird tot aufgefunden. Am Fuße des eigenen Hauses umfangen vom starren Kleid des Todes. Verdächtigt sie dorthin getrieben zu haben, wird ihr Mann Vittorio. Psychiater, von Berufswegen möglicherweise nicht ganz zurechnungsfähig. Bei dem was er alles aushalten, was er sich an Leiden und Zorn anhören muss, wäre es kein Wunder, wenn er irgendwann einmal selbst zu Schaden kommt. Vittorio ist hinter Gittern erst einmal besser aufgehoben. Es sei denn, jemand kann seine Unschuld beweisen.

Eva Maria versucht es. Versucht es mit all der Inbrunst, die durch Schmerz und Abhängigkeit von den Sprechstunden mit Vittorio bei ihr ausgelöst wird. Wie soll sie ohne ihn zurecht kommen? Ist sie doch sowieso nur ein halber Mensch, blind und taub vor Kummer, seit ihre Tochter verschwunden ist. Ganz allein begibt sie sich auf die Suche nach dem Mörder, nach den Gründen für Lisandras Tod und gerät ohne es zu wollen noch tiefer in einen Strudel aus Missetaten und Schuld.

"Esteban dreht sich nicht mehr um. Esteban ist wie alle. Beim ersten Mal dreht man sich um. Beim hundertsten nicht. Alles wird Normalität, wenn es sich wiederholt. Auch das Schrecklichste. Morgen wird alles sein wie immer."

Ich weiß nicht, wie ich Hélène Grémillons Sprachgewalt, ihre Wortkunst, ihr Spiel mit psychologischem Denken auch nur ansatzweise so in Worte fassen kann, dass ich ihren eigenen auch nur in so fern gerecht werde, dass die Leser dieser Rezension ihre Genialität, ihr Schreibvermögen erkennen und sofort den nächsten Buchladen stürmen, um sich das Buch zu kaufen. Deshalb einmal in Kurzfassung: Lest dieses Buch!!

"Sie presst die Hand ganz fest an die Baumrinde. Zu stark. Ein paar Tropfen fallen auf ihre Schuhe. Rote Tropfen. Ihr Blut fließt. Der Schmerz kann nicht nachlassen, solange der Zorn herrscht."

Hélène Gremillons poetische Worte haben mich vom ersten Satz an gefesselt. In Bann gezogen von Wahrheit und Härte, die aus diesen so fein gesetzten Worten sprechen, habe ich Seite für Seite verschlungen. Mitgefiebert, mit Eva Maria, die selbst so sehr unter ihrem eigenen Schmerz leidet, dass sie mir als Ermittlerin unbrauchbar erscheint. Ist sie doch so verblendet vom Vermissen der eigenen Tochter, die möglicherweise den Gräueltaten der Politik Südamerikas zum Opfer gefallen ist. Grausame historische Ereignisse, die in Argentinien sicher nach wie vor Schicksale wie Eva Marias beherrschen. Und doch legt sie all ihre verbliebene Energie in die Suche nach dem Mörder. Vittorio, ihr Retter, derjenige, der hilft, halbwegs über die Runden zu kommen, weil sie sich vor ihrem ihr verbliebenen Kind so sehr verschlossen und abgegrenzt hat, kann aus ihrer Sicht einfach nicht seine Rolle des Helfers verlassen haben und zu einem Mörder geworden sein.

"Das Entscheidende ist, zu wissen, welches Unglück uns eifersüchtig gemacht hat. Un dich kenne das Unglück, ich kenne die Wunde. Wir haben immer tausend Gründe, zu sein, was wir sind. Und ich weiß, aus welchen Gründen ich bin, was ich bin."

Der Aufbau des Romans ist großartig, nahezu grandios, lenkt er mich doch immer wieder in eine neue Richtung, so dass ich nie genau weiß, wer nun tatsächlich als Mörder in Frage kommt. Schuld trägt ein jeder in sich. Nicht zwangsläufig für diesen Tod, aber für viele andere körperlicher wie geistiger Natur. Liebe und Lüge liegen sehr dicht zusammen, greifen nahezu problemlos ineinander.

Hélène Grémillon konzipiert ein Flechtwerk aus Schuld und Verantwortung. Mit unterschiedlicher Leichtigkeit wird die Schwere eben dieser getragen und führt dazu, sich selbst zu finden oder eben zu verlieren, wie es Protagonistin Eva Maria ergangen ist. Eins der aufregendsten und faszinierendsten Werke, die ich in der letzten Zeit gelesen habe. 


Buchinfo:


Atlantik (Oktober 2014)
352 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag
20,00 €
Übersetzung: Claudia Steinitz
Atlantik auf Facebook


4 Kommentare:

  1. Wow, das klingt ja nach einem faszinierenden Buch. Ich bin mir nur noch nicht ganz sicher, ob Eva Maria mir als Ermittlerin zusagen würde. In letzter Zeit war ich von Ermittlerin, die selbst so viel Ballast mit sich herumtragen, eher genervt. Aber ich hab das Buch mal auf meine Wunschliste gesetzt.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Liebe Neyasha,

      ich bin mir zu 90% sicher, dass dir das Buch ebenfalls gefallen wird.
      Man darf Eva Maria nicht als Ermittlerin sehen. Vielmehr ist sie eine verzweifelte Frau, die die Augen vor der Wahrheit verschließt und aus Angst handelt. Ihre Rolle kann man keinesfalls mit der einer Ermittlerin im Krimi vergleichen.
      (Warum fallen mir so gute Sätze immer erst nach dem Rezensieren ein???)

      Löschen
    2. Ich hab mich dann auch schon nach dem Schreiben des Kommentars gedacht, dass ich das Problem vor allem dann habe, wenn es sich um einen waschechten Krimi mit "richtigen" Ermittlern handelt. Erlendur (von Arnaldur Indridason) z.B. hat mir zuviel Ballast, aber da handelt es sich ja auch um klassische Krimis.
      Ich werde dem Buch auf alle Fälle mal eine Chance geben, denke aber, dass ich darauf warte, bis ich es in der Bücherei ausleihen kann.

      Löschen
  2. "mir gedacht" natürlich, nicht "mich gedacht". %-)
    Heute bring ich irgendwie keine geraden Sätze zustande.

    AntwortenLöschen

Hallo,
schön, dass du hier her gefunden hast. Ich freue mich über deinen Kommentar.
Mit dem Absenden deines Kommentars gibst du dich einverstanden, die bestehenden Datenschutzbestimmungen (s. entsprechende Seite auf meinem Blog) zu akzeptieren.
Liebe Grüße,
Nanni